Umsatzsteuer Newsletter 19/2016
BFH befragt EuGH zu Vorsteuerabzug bei Briefkastenadresse
Was heißt eigentlich „vollständige Anschrift“? Laut BFH muss an der betreffenden Adresse eine „wirtschaftliche Aktivität“ stattfinden. Nennt also eine Rechnung nur eine Briefkastenadresse, kann hieraus kein Vorsteuerabzug geltend gemacht werden. Nach einer jüngeren Entscheidung des EuGH zu einem polnischen Verfahren scheint der EuGH keine vergleichbar strengen Anforderungen zu stellen. Deshalb lassen der 5. Senat und der 11. Senat des BFH jetzt ihre Rechtsauffassung vom EuGH prüfen.

1. Hintergrund
Beide Umsatzsteuersenate des BFH (5. Senat und 11. Senat) haben am 06.04.2016 nahezu identische Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt (Az. V R 25/15 und Az. XI R 20/14). Sie betreffen den Vorsteuerabzug aus Rechnungen, die lediglich eine Briefkastenadresse des Lieferanten nennen. Nach Auffassung des BFH muss der Lieferant an der Rechnungsadresse eine wirtschaftliche Tätigkeit entfalten. Diese Rechtsauffassung hat der BFH kürzlich bestätigt und verschärft. Damit standen Unternehmen, deren Rechnungen Postfachadressen angeben, vor Schwierigkeiten (siehe Newsletter 23/2015). Eine jüngere Entscheidung des EuGH in der Rs. PPUH Stehcemp hat den BFH jedoch an seiner Rechtsauffassung zweifeln lassen (Urteil v. 22.10.2015 – Rs. C 277/14). Es besteht Grund zur Hoffnung, dass der EuGH der strengen Rechtsauffassung des BFH widerspricht.

2. Fragen des BFH
Die Fragen des BFH an den EuGH lauten:
• Heißt „vollständige Anschrift“, dass dort eine wirtschaftliche Aktivität entfaltet werden muss?
• Darf der Vorsteuerabzug versagt werden, nur weil nicht alle formellen Voraussetzungen erfüllt sind?
• Ist es europarechtlich zulässig, gutgläubige Unternehmer auf das Billigkeitsverfahren zu verweisen?

3. Sachverhalt
In beiden Verfahren betrieben die jeweiligen Kläger einen Kfz-Handel. Sie kauften die Fahrzeuge bei anderen Kfz-Händlern ein. Strittig ist, ob die Lieferantenadresse auf den Rechnungen ausreicht. Im Fall des 5. Senats war unklar, welche Tätigkeiten der Lieferant dort ausführt. Im Fall des 11. Senats war der Lieferant an der Adresse nur postalisch erreichbar. Der eigentliche Geschäftsbetrieb befand sich an einer anderen Adresse.

4. Argumente des BFH
Der BFH beschäftigt sich mit drei Fragestellungen: Die formellen Anforderungen an die Rechnungsadresse, die Gutgläubigkeit des Rechnungsempfängers und der Vorsteuerabzug des gutgläubigen Rechnungsempfängers im Billigkeitsverfahren.

Der BFH hält daran fest, dass in der Rechnung diejenige Anschrift angegeben werden muss, an der der Unternehmer seine wirtschaftliche Aktivität entfaltet. Nur so soll die Finanzverwaltung in der Lage sein, die Rechnungsvoraussetzungen einfach und leicht zu prüfen. Andererseits gesteht der BFH zu, dass der EuGH in der Rs. PPUH Stehcemp den statuarischen Sitz als ausreichend betrachtete.

Der BFH hat Bedenken, Vorsteuerabzug auch dann zu gewähren, wenn nicht alle formellen Rechnungsvoraussetzungen erfüllt sind. Aus seiner Sicht besteht die Gefahr, dass die gesetzlichen Voraussetzungen „jede Bedeutung verlieren“. Zumindest soll der Unternehmer verpflichtet sein, alle Maßnahmen zu ergreifen, die vernünftigerweise von ihm erwartet werden können, um sich von der Richtigkeit der Rechnungsangaben zu überzeugen. Unklar bleibt, ob der BFH dies auch fordert, wenn gar kein Betrug im Raum steht.

Zurzeit können gutgläubige Unternehmer die Erstattung von Vorsteuern aus fehlerhaften Rechnungen nur im Billigkeitsverfahren geltend machen. Aus Sicht des BFH ist dies mit dem Europarecht vereinbar, denn die Mitgliedstaaten können Verfahrensmodalitäten grundsätzlich autonom regeln. Andererseits könnte es dem Effektivitätsgrundsatz widersprechen, den Unternehmer auf ein zweistufiges Verfahren zu verweisen.

5. Auswirkungen für die Praxis
Dem 5. Senat geht es anscheinend darum, sich seine (strenge) Rechtsauffassung vom EuGH bestätigen zu lassen. Die Vorlagefrage des 11. Senats ist dagegen offener formuliert. Wie der EuGH entscheiden wird, lässt sich nicht endgültig abschätzen. Insbesondere bei verfahrensrechtlichen Fragen hält sich der EuGH sehr zurück.

Viele Unternehmen (und Behörden) in Deutschland nutzen Postfachadressen. Das o. g. Urteil des BFH hat diese Unternehmen vor große Schwierigkeiten gestellt. Es wäre daher hilfreich, wenn der EuGH zumindest der strengen Auslegung des Kriteriums „vollständige Anschrift“ eine Absage erteilen würde. Tatsächlich ist diese Hoffnung nicht unberechtigt. Der EuGH stellt üblicherweise keine hohen Anforderungen an formelle Voraussetzungen. Dies gilt allerdings nur, soweit kein Betrug vorliegt. Ist der Umsatz jedoch in einen Betrug einbezogen, wendet der EuGH formelle Anforderungen äußerst streng an. In den vorliegenden Fällen bestand allerdings kein Verdacht auf Umsatzsteuerbetrug. Daher besteht die Erwartung, dass der EuGH im Sinne der Kläger entscheiden wird.

Versagt das Finanzamt den Vorsteuerabzug, weil Rechnungen eine Briefkastenanschrift oder eine Postfachadresse angeben, empfiehlt es sich, hiergegen Rechtsbehelf einzulegen (Einspruch oder Klage). Weiterhin sollte Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH beantragt werden.

Matthias Luther 

Ansprechpartner:

Matthias Luther, L.L.M. Tax
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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Stand: 19.07.2016