Umsatzsteuer Newsletter 25/2016
Überkompensation des Steuerschadens im Umsatzsteuerkarussell – FG gewährt (Härtefall-)AdV
Manche Unternehmer sehen sich dem Verdacht der Beteiligung an einem Umsatzsteuerkarussell ausgesetzt. Das FG Baden-Württemberg hat einem betroffenen Unternehmer nun Aussetzung der Vollziehung gewährt (Beschl. v. 23.06.2016, 1 V 1044/16). Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist zum einen, dass das FG eine Mehrfachkompensation des Steuerschadens in einer Lieferkette für unzulässig hält. Zum anderen gewährt das FG auch deshalb AdV, da eine Vollziehung der Bescheide eine unbillige Härte wäre.

1. Sachverhalt
Streitig ist der Vorsteuerabzug aus Gutschriften über den Erwerb von Silbergranulat. Der Antragstellerin (im Folgenden: ASt.), eine GmbH, die mit Edelmetallen handelt, wurde telefonisch Silbergranulat zum Kauf angeboten. Die ASt. erkundigte sich daraufhin bei ihren Abnehmern nach entsprechendem Kaufinteresse. Bekundeten die Abnehmer Interesse, erwarb die ASt. das Granulat und veräußerte es an diese weiter. Als Einkaufs- und Verkaufspreis war jeweils der Börsenpreis abzüglich jeweils eines festen Abschlags vereinbart, sodass der ASt. ca. 3 % Marge verblieben. Einen Teil des Kaufpreises übergab die ASt. dem Fahrer des Lieferanten, der das Granulat mit Pkw bei der ASt. anlieferte, in bar. Den restlichen Betrag überwies sie dem Lieferanten. Dieser versteuerte seine Umsätze. Der Abnehmer holte das Granulat noch am selben Tag bei der ASt. ab.

Die Steuerfahndung ging davon aus, dass die ASt. – ebenso wie weitere Vorlieferanten – in ein Umsatzsteuerkarussell einbezogen sei. Die ASt. hätte dies zumindest wissen müssen. Dies ergebe sich aus einer Reihe von Auffälligkeiten: Die Menge des gehandelten Silbergranulats sei nicht branchenüblich. Üblich seien ca. 100 kg pro Woche. Die ASt. habe deutlich mehr erworben. Die ASt. habe schon kurz nach ihrer Gründung Umsätze in Millionenhöhe erzielt und einen Großteil der Einkäufe in bar bezahlt. Das Silbergranulat sei unversichert mit einem Pkw durch Deutschland transportiert worden. Die ASt. habe das Silbergranulat unter dem öffentlich zugänglichen Börsenpreis erworben. Hierfür gebe es keinen Grund außer der kriminellen Herkunft des Granulats. Der Geschäftsführer der ASt. habe als Branchenkenner diese Umstände durchschaut und die Geschäfte gleichwohl getätigt. Andere Marktteilnehmer hingegen hätten von solchen Geschäften abgesehen.

Gegen die Versagung des Vorsteuerabzugs ging die ASt. vor und beantragte u. a. Aussetzung der Vollziehung (AdV) beim FG. Die ASt. beruft sich auf ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umsatzsteuerbescheide. Sie habe sich u. a. vor Ort von der Ordnungsgemäßheit des Geschäftsbetriebs des Lieferanten überzeugt, Auskünfte bei deren Steuerberater und ein Rechtsgutachten eingeholt.

2. Rechtliche Würdigung des FG
Das FG gab dem AdV-Antrag der ASt. statt. Zum einen bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide. Zum anderen würde die Vollziehung der Bescheide für die ASt. eine unbillige Härte bedeuten:

Aus Sicht des FG liegen die Voraussetzungen für einen Vorsteuerabzug allesamt vor. Insbesondere seien die Gutschriften auch formal ordnungsgemäß.

Auch wegen einer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung könne der ASt. der Vorsteuerabzug nicht versagt werden: Das FG nimmt Bezug auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung. Danach muss die Finanzbehörde aufgrund objektiver Umstände nachweisen, dass der Steuerpflichtige von einer Steuerhinterziehung wusste oder hätte wissen müssen. Findet ein Betrug nicht unmittelbar auf der Vorstufe, sondern weiter vorn in der Lieferkette statt, müssten vorhandene Indizien umso überzeugender sein. Das FG sah einen entsprechenden Nachweis als nicht erbracht an. Eindeutige Beweise gebe es keine. Kein Beteiligter in der Lieferkette habe ein Geständnis abgelegt oder sei vor einem Strafgericht angeklagt oder verurteilt. Vereinbarungen zwischen den Beteiligten habe die Steuerfahndung nicht erkennen können. Es sei dem Hauptsacheverfahren vorbehalten, z. B. durch Gutachter festzustellen, ob es für Silbergranulat einen seriösen Markt gebe. Ferner habe die ASt. Kontrollmaßnahmen durchgeführt, die zu berücksichtigen seien.

Bemerkenswert ist eine weitere Aussage, die das FG bei einer Gesamtschau der Lieferkette tätigt: Nicht nur bei der ASt., sondern auch bei den Vorlieferanten und beim Abnehmer sei der Vorsteuerabzug versagt worden. Damit sei der vermeintliche Steuerschaden in der Lieferkette über das erforderliche Maß hinaus kompensiert.

Bedeutsam ist ferner, dass das FG AdV auch aufgrund unbilliger Härte gewährt. Diese ist gem. § 361 AO, § 69 FGO u. a. dann zulässig, wenn ein Steuerpflichtiger durch eine Vollstreckung der angefochtenen Bescheide in seiner Existenz gefährdet wird. Aus dem Beschluss des FG geht nicht hervor, was die ASt. diesbezüglich vorgetragen hat. Jedoch folgert das FG aus der Tatsache, dass das Geschäft der ASt. mittlerweile zum Erliegen gekommen sei, und aus den Bilanzen und GuV-Rechnungen die Existenzgefährdung der ASt. In diesem Fall genügen für eine AdV bereits geringere Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide.

3. Fazit
Der Beschluss des FG ist in mehrfacher Hinsicht begrüßenswert: Das FG nimmt die Frage der Feststellungslast ernst und lässt es nicht genügen, dass die Behörde lediglich eine Vielzahl vermeintlicher Indizien für ein Kennenmüssen vorträgt. Auch hinsichtlich der Frage, inwieweit sich die Finanzbehörden bei einem Steuerschaden mehrfach schadlos halten können, bezieht das FG klar Stellung. Unternehmer, die AdV beantragen, sollten stets auch die Möglichkeit der Härtefall-AdV im Blick behalten und einen diesbezüglich begründeten Antrag stellen. Positive gerichtliche Entscheidungen zur Härtefall-AdV haben bislang Seltenheitswert.

Ansprechpartner:

Thomas Streit, LL.M. Eur.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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Stand: 31.08.2016